Von August 2003 bis Februar 2010 wurde eine Gruppe von 99 Patientinnen mit Turner Syndrom und 68 gesunde Frauen, alters-gematcht, in einer Studie verfolgt. Ziel war die kardiovaskuläre Gesundheit. In einer weiteren Analyse der Studiendaten wurde nunmehr geprüft, wie sich die hormonelle Situation der Patientinnen mit Turner Syndrom unter einer laufenden HRT gegenüber den endokrinologisch gesunden Kontrollen verhielt. (Mette Hansen Viuff et al. Women With Turner Syndrome Are Both Estrogen and Androgen Deficient: The Impact of Hormone Replacement Therapy. Journal of Clinical Endocrinology & Metabolism 2022; 107: 1983–1993)

Die meisten Turner-Syndrom-Patientinnen wurden mit oraler HRT und einer Östradioldosis von 2 mg substituiert (n = 69). Nur wenige erhielten eine transdermale HRT (n = 3) oder nur 1 mg Östradiol (n = 1). Bei einer Patientin war die HRT unbekannt. Die restlichen Patientinnen waren nicht substituiert.

Die Autoren sehen bei den Turner Syndrom Patientinnen niedrigere Androgenwerte, v.a. unter einer hormonellen Substitution, da diese bei oraler Anwendung durch die SHBG-Stimulation die Konzentration freien Testosterons insbesondere senkte. Insgesamt, so die Autorengruppe, lägen die Androgene um 30-50% niedriger als in der Kontrollgruppe.

Die Östrogenisierung unter einer HRT war sehr gut. Ohne HRT ging die Östrogenisierung der Turner Syndrom Patientinnen gegen 0, wie zu erwarten. Die Östradiolwerte waren bei den substituierten Patientinnen etwas niedriger als in der Kontrollgruppe.

Nun ergibt sich als Konsequenz aus dieser Studie, ob die Ergebnisse eine gesundheitliche Relevanz haben. Die Autoren meinen, dass ihre Daten eine Unterversorgung von Patientinnen mit Turner-Syndrom widerspiegeln, da niedrigere Androgenwerte vorliegen. Allerdings sind diese Daten nicht in der Lage zu belegen, dass dadurch tatsächlich ein langfristig gesundheitlicher Nachteil entsteht. Auch die Anmerkung der Autoren, die Patientinnen seien offensichtlich hinsichtlich ihrer Östrogenisierung unterversorgt, da ihre Werte niedriger seien als bei fertilen Kontrollen, ist – meiner Meinung nach – relativ gewagt, denn es ist unklar, welche Substitutionsdosis bzw. welche substituierten Wirkspiegel notwendig sind, um langfristig die kardiovasukläre Gesundheit und die Knochengesundheit zu erhalten. In jedem Fall ist sie niedriger als die mittlere Östradiolkonzentration fertiler Frauen über den Zyklus hinweg.

Die Daten sind insofern relevant, als sie uns daran erinnern, bei diesem Kollektiv wie auch anderen Frauen mit prämaturer Ovarialinsuffizienz die Notwendigkeit einer gut dosierten HRT immer im Kopf zu behalten und, da diese Frauen auch bei bestehendem Östrogenmangel meist beschwerdefrei sind, ggf. gelegentlich die Östradiolwerte zu kontrollieren. Dass diese Daten die Notwendigkeit einer Androgensubstitution belegen sehe ich nicht bzw. ich befürworte aufgrund dieser Daten keine generelle Androgensubstitution dieser Patientinnengruppe oder anderer. Für den Benefit einer solchen Strategie gibt es keine suffiziente Datenbasis.

Ihr

Michael Ludwig