Von den vier natürlichen humanen Estrogenen war eines erst vor einigen Jahren wieder aus der Versenkung aufgetaucht: Estetrol (E4), ein ausschließlich in der Schwangerschaft produziertes Hormon, synthetisiert in der fetalen Leber und über die Plazenta an die Mutter abgegeben. Nach Jahrzehnten in der wissenschaftlichen Versenkung erlebt E4 seit der Jahrtausendwende eine Renaissance – mit potenziell weitreichenden Implikationen für Kontrazeption, Menopausetherapie und sogar Onkologie. Dies wurde in einer aktuellen Kurzübersicht in der Zeitschrift Menopause noch mal zusammenfassend dargestellt. (Herjan J.T. Coelingh Bennink et al. The rediscovery of estetrol and ist implications for estrogen treatment. Menopause 2025; 32: im Druck: DOI: 10.1097/GME.0000000000002537)

Anders als Östradiol (E2) oder Östron (E1), weist E4 eine hohe orale Bioverfügbarkeit von ca. 70–80 % auf und wird kaum in der Leber metabolisiert. Dies führt zu stabilen Plasmaspiegeln und einer geringen Beeinflussung hepatischer Proteine. Laboranalytisch – gemessen mit Surrogatparametern – führt das zu einer theoretischen Senkung für das Risiko thromboembolischer Ereignisse. Zum Vergleich: Von oral verabreichtem Östradiol gelangen lediglich etwa 5 % als intaktes E2 in den systemischen Kreislauf – der überwiegende Teil (ca. 95 %) wird in der Leber zu Östron und Östronsulfaten metabolisiert. In der Praxis bedeutet das, so die Autoren, wer oral Östradiol verabreicht, behandelt im Wesentlichen mit E1 – nicht mit E2.

Ursprünglich sollte E4 tatsächlich als Komponente einer modernen, natürlichen Hormonersatztherapie entwickelt werden. Erste präklinische Daten zur oralen Bioverfügbarkeit überzeugten – und auch bei Johnson & Johnson sah man Anfang der 2000er Jahre Potenzial. Doch die 2002 publizierte Women’s Health Initiative (WHI)-Studie sorgte für einen jähen Kurswechsel: Die MHT-Entwicklung wurde gestoppt, der Fokus verlagerte sich auf kombinierte orale Kontrazeptiva.

Seit 2022 ist eine Kombination aus 15 mg E4 und 3 mg Drospirenon als orales Kontrazeptivum zugelassen. Die Phase-III-Studien mit > 3.000 Probandinnen zeigten eine hohe kontrazeptive Wirksamkeit (Pearl-Index 0,44 in Europa) sowie ein günstiges Sicherheitsprofil mit geringer Beeinflussung der Gerinnung und positiven Effekten auf Lipid- und Glukosestoffwechsel. Auch in der Menopausetherapie zeigt E4 in Dosen von 15–20 mg/Tag eine signifikante Reduktion vasomotorischer Symptome sowie günstige Effekte auf den Urogenitaltrakt und die Knochengesundheit. Eine Zulassung für diesen Einsatz wird, so die Autoren, für 2026 erwartet.

Spannend finde ich die Beobachtungen bei onkologischen Fragestellungen: In Studien zeigte E4 in Dosen bis 60 mg/Tag antiproliferative Effekte bei hormonrezeptorpositivem Mammakarzinom und additive Wirkungen in der Androgendeprivationstherapie beim Prostatakarzinom – ohne relevante kardiovaskuläre Nebenwirkungen. Ursache dafür ist, dass E4 primär den nukleären Estrogenrezeptor-α aktiviert, jedoch nicht den membranständigen Rezeptor – Östradiol arbeitet an beiden Rezeptoren. Dies könnte erklären, warum es unter E4 kaum proliferative Effekte auf Brust- und Lebergewebe gibt (Originaltext „minimal impact“) und möglicherweise vaskuläre Reparaturprozesse begünstigt werden. In vitro wirkte E4 in Studien sogar antagonistisch auf die E2-induzierte Proliferation mammärer Epithelzellen.

Die Autoren des Artikels bezeichnen E4 als „most likely safer estrogen“ – eine Formulierung, die angesichts der bisherigen Datenlage gerechtfertigt, aber noch nicht abschließend belegt ist. Trotz vielversprechender Ergebnisse sind Langzeitdaten, insbesondere zur kardiovaskulären Sicherheit, noch überschaubar. Auch ist offen, ob die beobachteten Vorteile gegenüber Ethinylöstradiol-basierten Präparaten in der breiten klinischen Anwendung Bestand haben.Besonders hervorzuheben ist, dass E4 kein neues synthetisches Molekül darstellt, sondern ein humanphysiologisches Schwangerschaftshormon – dies könnte für Anwenderinnen ein entscheidendes Argument sein.

Ihr

Michael Ludwig